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Dankesrede
zum Breitbach-Preis 1999
Rainer Malkowski
Dreizehn
Arten das Gedicht zu betrachten
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IX
Ein nicht mehr erwarteter Brief, der eines Morgens allein im
Kasten liegt. Eine weit geöffnete Tür zu einem Zimmer,
das keinen Boden hat. Aufkommender Wind nach einem heißen
Tag. Des Einhorns Huf auf einem weißen Blatt.
X
Von kurzen Gedichten, die eine einzige Szene vergegenwärtigen,
wird gerne gesagt, sie seinen Momentaufnahmen. Handelt es sich
dabei wirklich um Gedichte, ist diese Aussage falsch. Jedes
gute Gedicht zieht eine Summe, in der Vergangenheit und Zukunft
eingeschlossen sind. Es gibt die Zeit als Ganzes - als Erfahrung,
als Phänomen.
XI
Sie ist selten geworden bei uns, die Metapher. Nicht unmöglich,
natürlich nicht. Das Gedicht verträgt kein Dogma.
Es ist offen für jeden, der es auf seine Art kann. Aber
wir haben zu viele Metaphern gelesen, die nur Schmuck waren,
prätentiöser Aufputz. Auch ein gesucht abstoßender
Aufputz mitunter, wenn uns ein Autor zeigen wollte, daß
er nicht von gestern ist. Hinzugetanes also, nichts was die
Substanz hervortrieb. Wenn die Metapher lediglich ein anderer
Ausdruck ist und kein reicherer, wenn sie keinen poetischen
Mehrwert schafft - wozu ist sie dann da? Und eine zweite Frage,
zu einer anderen Vertreterin der Gattung: Wenn die Metapher
als Rätsel dasteht, unentschlüsselbar - wie sollen
wir ihre Qualität dann ermessen? Ihre Kühnheit können
wir nur beurteilen, wenn wir erkennen, wie genau sie zugleich
trifft.
XII
Über manche Gedichte läßt sich gerade wegen
ihrer Vollkommenheit wenig sagen. Wir atmen sie einfach ein,
und es bleibt uns ein Volumengewinn für immer, über
den wir uns aber kaum jemals Rechenschaft ablegen. Eine kritische
Erörterung wäre ebenso überflüssig wie die
Diskussion über ein Ahornblatt, das im Herbstlicht leuchtet.
XIII
Einfachheit bei einem Gedicht muß der unverstellte Zugang
zum Komplexen sein. Wo das zutrifft, wirkt das einfache Gedicht
auf den zweiten Blick nicht so leicht verständlich wie
es auf den ersten scheint. Die Amsel, um es an einem Beispiel
und mit einer abschließenden Verbeugung vor Wallace Stevens
zu sagen, ist ein einfacher Vogel.
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