Dankesrede zum Breitbach-Preis 1999
Rainer Malkowski
Dreizehn Arten das Gedicht zu betrachten


V
Es ist nicht die komprimierende Kürze, die das Gedicht macht. Manche Gedichte sind lang. Es ist nicht die graphische Struktur. Manche Gedichte sind geschrieben wie ein fortlaufender Prosatext. Es ist nicht ein nachzählbarer Rhythmus. Manche Gedichte werden getragen von einem leisen Atemzug. Es ist der Ton, der das Gedicht macht. Er allein ist der Sitz der Persönlichkeit.

VI
Der Roman steht auch bei denen in Ansehen, die keine Romane lesen, jedenfalls keine anspruchsvollen. Das Gedicht nur bei denen, die Gedichte lesen. Es kann in Verdünnungen nicht existieren. Wenn es seine Rigorosität verliert, die sich um die Bequemlichkeit des Lesers nicht kümmert, hört es auf, ein Gedicht zu sein.

VII
Ein Gedicht ist kein Grund, feierlich zu werden. Es haßt den zelebrierten Feinsinn. Es ist gekränkt, wenn jemand meint, er müsse ihm durch die Art seines Vortrags Bedeutung hinzufügen. Es mag die Leute, die es bei sich tragen wie einen Zettel mit einer Zugverbindung.

VIII
Über August Stramm, den expressionistischen Lyriker, sagte seine Tochter einmal etwas Denkwürdiges. Vater, sagte sie, fiel das Dichten immer so schwer. Ja wie denn nicht. Es gibt kein poetisches Vokabular, dessen man sich bedienen kann. Das einzelne Wort ist gedichtneutral. Erst in einer niemals vorhersehbaren, von Gedicht zu Gedicht neu zu ermittelnden Kombination mit anderen gibt es seine Neutralität auf. In dieser Schwierigkeit liegt allerdings zugleich eine große Freiheit. Wer Talent genug hat, von ihr Gebrauch zu machen, wie William Carlos Williams, dem gelingt auch dies: so von ein paar Pflaumen im Kühlschrank zu sprechen, denen er nicht widerstehen konnte, daß man nicht mehr begreift, warum man das Leben noch gestern für eine zweifelhafte Angelegenheit hielt

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