V
Es ist nicht die komprimierende Kürze, die das Gedicht
macht. Manche Gedichte sind lang. Es ist nicht die graphische
Struktur. Manche Gedichte sind geschrieben wie ein fortlaufender
Prosatext. Es ist nicht ein nachzählbarer Rhythmus. Manche
Gedichte werden getragen von einem leisen Atemzug. Es ist der
Ton, der das Gedicht macht. Er allein ist der Sitz der Persönlichkeit.
VI
Der Roman steht auch bei denen in Ansehen, die keine Romane
lesen, jedenfalls keine anspruchsvollen. Das Gedicht nur bei
denen, die Gedichte lesen. Es kann in Verdünnungen nicht
existieren. Wenn es seine Rigorosität verliert, die sich
um die Bequemlichkeit des Lesers nicht kümmert, hört
es auf, ein Gedicht zu sein.
VII
Ein Gedicht ist kein Grund, feierlich zu werden. Es haßt
den zelebrierten Feinsinn. Es ist gekränkt, wenn jemand
meint, er müsse ihm durch die Art seines Vortrags Bedeutung
hinzufügen. Es mag die Leute, die es bei sich tragen wie
einen Zettel mit einer Zugverbindung.
VIII
Über August Stramm, den expressionistischen Lyriker, sagte
seine Tochter einmal etwas Denkwürdiges. Vater, sagte sie,
fiel das Dichten immer so schwer. Ja wie denn nicht. Es gibt
kein poetisches Vokabular, dessen man sich bedienen kann. Das
einzelne Wort ist gedichtneutral. Erst in einer niemals vorhersehbaren,
von Gedicht zu Gedicht neu zu ermittelnden Kombination mit anderen
gibt es seine Neutralität auf. In dieser Schwierigkeit
liegt allerdings zugleich eine große Freiheit. Wer Talent
genug hat, von ihr Gebrauch zu machen, wie William Carlos Williams,
dem gelingt auch dies: so von ein paar Pflaumen im Kühlschrank
zu sprechen, denen er nicht widerstehen konnte, daß man
nicht mehr begreift, warum man das Leben noch gestern für
eine zweifelhafte Angelegenheit hielt
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