|
Lyrik
- Bemerkungen über eine exotische Gattung
(1996, Steiner)
Also: Warum schreibt man überhaupt Gedichte?
Weil man das Bedürfnis hat, es zu tun. Und warum hat man
das Bedürfnis? Das weiß ich nicht. Den meisten Menschen
fehlt dieses Bedürfnis, und sie leben deswegen weder glücklicher
noch unglücklicher. Talent ist keine Erklärung für
das Verlangen, Gedichte zu schreiben. Vielleicht ist Talent
auch nur ein anderes Wort für ein spezifisches Bedürfnis
- für ein bestimmtes, zwanghaftes Wollen, das durch seine
Entschiedenheit zu einer Form kommt.
Oft halte ich das Schreiben von Gedichten für eine nutzlose
Beschäftigung. Und manchmal sogar für eine Art Verrücktheit.
Aber es geschieht auch, dass ich stolz darauf bin, das Nutzlose
zu tun und etwas herzustellen, das keinem gesellschaftlich verfügten
Zweck dient.
Wenn ich Gedichte schreibe, fühle ich mich deutlicher am
Leben. Ich vergewissere mich der Wirklichkeit, indem ich sie
zur Sprache bringe. Das gelingt nie ein für allemal. Und
es gelingt stets nur in Annäherungen. Was wir die Wirklichkeit
nennen, steckt zu einem erheblichen Teil in den Worten, aber
sie tritt nur mit hinlänglicher Leuchtkraft in Erscheinung,
wenn die Worte in einer bestimmten Ordnung zusammengefügt
werden. Das Auffinden solcher Ordnungen, die Produktion des
verbalen Beziehungssystems, in dem Wirklichkeit vielschichtig,
also in unbeantwortbare Fragen mündend, zur Anschauung
kommt - das ist das Abenteuer. Mit jedem einzelnen Gedicht ist
es neu zu bestehen.
Gedichte sind jene Art von Genauigkeit, die die Ungenauigkeit,
mit und in der wir leben, bewußt macht. Sie zielen auf
Erkenntnis durch Vergegenwärtigung. Und sie zielen auf
Totalität - auch da, wo sie Daseinserfahrung nur an einem
scheinbar geringen Beispiel konkretisieren. Wenn Gedichte glücken,
erzählen sie in schwindelerregender Kürze eine unendliche
Geschichte. Das macht sie zum Proviantformat unter den literarischen
Formen.
|
|
|