Wirkung
 

Neue Zürcher Zeitung
3. September 2003

Die Welt aus dem Augenwinkel
Zum Tod des Lyrikers Rainer Malkowski


Die Fährten bleiben noch lange sichtbar. Immer wieder müsse er Wochen, ja Monate ohne Gedichte auskommen. So hat Rainer Malkowski, der am 1. September im Alter von 63 Jahren im bayrischen Brannenburg gestorben ist, einmal in einem kleinen Aufsatz über das Schreiben formuliert. Auf die früher entstandenen Werke blicke er in solchen Dürrezeiten zurück «wie auf die Fussspuren eines fremden Wesens». Dann aber gebe es jene Momente, in welchen sich die Wahrnehmung kaum merklich verschiebe, und es setze wieder die «Kritzelsucht» ein, schweifend zunächst und begleitet von einem sonderbaren Gefühl in Magen oder Kehle. Bis sich die genauen Beobachtungen irgendwann in Buchstaben verwandelt hätten, in die Tag- und Nachtbilder des Schreibenden: «Was plötzlich auf dem Papier stand, / schrieb mir der alte Dichter, / war nicht viel länger / als mein kleiner Finger. / Aber ich hatte mich beinahe / ganz darin untergebracht: / meinen zerschlissenen Traum, / meine Unruhe, / meine Art, / die Menschen zu sehen.»

Beinahe ein halbes Leben hatte Rainer Malkowski schon in seinen Versen untergebracht, als er 1975 die literarische Bühne betrat. «Was für ein Morgen» - diese schmale Sammlung zeigte den 1939 geborenen Autor gleich als jenen Wahrnehmungsvirtuosen, der er all die Jahre über bleiben sollte. Der Erfolg des Débuts mag ihn in dem Entschluss bestärkt haben, seine Arbeit als Werbemanager aufzugeben und fortan ganz dem Schreiben zu leben. Immerhin sieben Gedichtbände folgten dem ersten Buch nach, dazu einige Anthologien und Aufsätze. Mit der Alltagslyrik der siebziger Jahre haben Malkowskis Verse wenig gemein, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, als stünden sie einer Melancholie der Oberfläche nicht fern. Vielleicht in Gegenbewegung zu den handlichen Formeln der Werbung stützt Malkowski seine Sprache auf das genaue Sehen, inszeniert jene «Wahrnehmungen / aus den Augenwinkeln», die einen Hurrikan gleichermassen erhaschen können wie den «an und ab- / schwellenden Taumel / der Insekten».

Doch der Blick, den die Verse zu kultivieren suchen, erweist sich von Beginn an als geheimer Bruder der filigranen Reflexion. «Kaum zu unterscheiden, ob genaues Sehen noch Sehen ist oder schon ein Gedanke»,
hat Malkowski zuletzt in seinen «Hinterkopfgeschichten»
geschrieben, einer Sammlung kleiner, zwischen Aphorismus und Augenblicksbild changierender Prosastücke, die den schönen Titel «Im Dunkeln wird man schneller betrunken» trägt. Tatsächlich sind die Gedichte alles andere als bloss gereihte Beobachtungen. Rainer Malkowski war ein Meister des freien Verses, wie kaum ein anderer verstand er es, die Welt- und Sprachteilchen in seinen Gedichten auszubalancieren, sie zu kleinen Denkbildern, zu Stillleben oder Vignetten zu formen. Und stets ist dem Ton eine leichte, bisweilen ironische, bisweilen skeptische Distanz zu den Dingen und Wörtern anzumerken.

Wo die Distanz zu gross wird, schlägt sie gar um in zarte Angst, davor zunächst, dass die Bilder eines Tages verblassen könnten. Ein leises Schaudern und das Wissen um die Vergänglichkeit sind diesen Versen eingeschrieben: «Solange wir nicht denken, / sind wir unsinkbar. / Ein Schauermärchen, / dass nur wenige Meter / unter der Oberfläche die grosse / Kälte beginnt.» Je weiter das Schreibleben voranschreitet, desto mehr gleicht der tägliche Blick auf den Kalender einem «Kampf gegen den allmählichen / Tod». So wendet sich das Auge noch stärker der Vergangenheit zu, und die «Willkür der Erinnerung» hält den Gedächtnisraum offen für jene Bilder, die einst haften bleiben wollten: zersplitterte Fenster, ein Bleistiftstummel oder die «Kindheitssekunden, / als uns plötzlich ein Ball / die Treppe herab / entgegensprang».

Es sind der Schnee und die Luft, die Malkowski in seinen letzten Gedichten umspielt hat. Und beseelt von solcher Leichtigkeit, konnte er, der seit langem mit einer schweren Krankheit zu kämpfen hatte, am Ende auch wunderbar genau über den Tod und die Liebe schreiben. Seine Nachdichtung des «Armen Heinrich», die in diesem Frühjahr erschienen ist, zeigt noch einmal Malkowskis grosse Kunst, das brüchige Leben in die Kontemplation des Gedichtes zu überführen. Sein «Forscher Fabre» wusste davon: «Etwas von der Ruhe / Fabres, / dem der Nachmittag verging / über der Beobachtung / einer Sandwespe. // Auch Fabre wusste nicht, / was das ist: die Zeit. / Aber er ertrug es vielleicht / besser, / weil er so wenig / für sich selber brauchte. // Ein sehr beschäftigter alter Mann / auf einem Stück Provenceerde. / Was die Mühe lohnt, / konnte er / mit blossem Auge erkennen.»
NICO BLEUTGE

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