Wirkung
 

Süddeutsche Zeitung
3. September 2003


Gehen und Sehen
Zum Tod des Schriftstellers Rainer Malkowski

Schon der Titel des ersten Gedichtbandes von Rainer Malkowski, 1975 in der edition suhrkamp erschienen, schlug den Ton an, auf den seine Lyrik auch in den folgenden sieben Bänden gestimmt sein würde: „Was für ein Morgen”. Am Alltäglichen entzündete sich das Staunen eines illusionslosen Ichs, es übersetzte das Gewohnte in Wortgebilde, die ihm die Selbstverständlichkeit nahmen, es faszinierend oder irritierend machten. Das Debüt des Sechsunddreißigjährigen fiel zusammen mit dem Beginn der lyrischen Renaissance des Subjekts.

Trotzdem passte das Etikett der „Neuen Subjektivität“ nicht auf diesen überraschend hervorgetretenen Lyriker. Was auffiel, war gerade die Unauffälligkeit, mit der sich hier ein Subjekt zu Wort meldete. Von Anfang an verzichtete Malkowski auf Pathos und Tiefsinn, auf den Luxus der Metapher und des formalen Dekors. Er selbst spricht in einem seiner gelegentlichen Selbstkommentare von den glücklichen Augenblicken der Lust, „etwas zu machen, in dem sowohl die Welt als auch ich selbst auf geheimnisvolle Weise anwesend sind – durch nichts als eine Hand voll Wörter. Und das zugleich ein Drittes ist, ein Ding für sich, mit eigenem Atem“.

Solche Wort-Geschöpfe mit eigenem Atem hat Malkowski im Lauf der Jahre in bewundernswert großer Zahl ins Leben gerufen. Im Dreijahres-Rhythmus kamen seine Gedichtbände heraus, in jedem gab sein Verfasser „Vom Rätsel ein Stück“, so der Titel des dritten von 1980. Aber das Rätsel steckte an der Oberfläche, wurde im Gehen und Sehen entdeckt. Der Gang wurde immer sicherer, die Optik immer genauer: In den beiden letzten Gedichtsammlungen „Ein Tag für Impressionisten“ (1994) und „Hunger und Durst“ (1997) gelangte der Dichter zur vollen Kenntlichkeit. Anschauung und Gedanke ruhen hier im Gleichgewicht.

Der einzige Prosaband, die vor drei Jahren veröffentlichten „Hinterkopfgeschichten“ unter dem Titel „Im Dunkeln wird man schneller betrunken“ (der seit langem von Blindheit Bedrohte war mit allen Sinnen dem Tageslicht und der Nüchternheit zugewandt), enthielt in aphoristischer Form die Summe von Malkowskis Erfahrung und Verdichtungskunst. „Das Einfache kann federleicht sein – und hat doch, wenn es glückt, das Gewicht der Welt.“ Es glückte, wie es in so vielen Gedichten geglückt war. Etwas von der in diesen späten Büchern artikulierten Haltung teilt sich dem Leser mit: Geduld, Demut, Gelassenheit. Sie sprechen schließlich auch aufs beredteste aus der schwerem Leiden und Todeserwartung abgerungenen Nachdichtung des „Armen Heinrich“ von Hartmann von Aue.

Rainer Malkowski, 1939 in Berlin geboren, brachte es in jungen Jahren zum Geschäftsführer einer großen Werbeagentur, um auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Karriere zu tun, wovon andere nur träumen: Er stieg aus. Oder besser: Er stieg ein, ließ sich ein auf die Existenz eines Lyrikers, „stolz darauf, das Nutzlose zu tun und etwas herzustellen, das keinen gesellschaftlich verfügten Zwecken dient“. Dieser wahrhaft freie Schriftsteller war Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Im Jahr 1999 wurde sein lyrisches Gesamtwerk mit der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises gewürdigt.
Am 1. September ist Rainer Malkowski gestorben, noch nicht ganz 64 Jahre alt.


ALBERT VON SCHIRNDING

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