Dankesrede zum Breitbach-Preis 1999

Dreizehn Arten das Gedicht zu betrachten

Für Wallace Stevens, den Dichter der
„Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten“
I
Von Zeit zu Zeit muß sich das Gedicht die Frage gefallen lassen, wozu es überhaupt da ist. Ein typisches Minderheiten-Problem. Entscheidend ist nun allerdings, wer das Gedicht nach seiner Relevanz befragt. Am fruchtbarsten ist es, wenn der Autor das selber tut. Nicht täglich, denn sonst schriebe er vielleicht keines mehr - aber doch immer wieder, denn dann schreibt er vielleicht ein besseres. Wobei es weniger darauf ankommt, wie der Autor die Frage beantwortet als vielmehr darauf, daß er sie ernsthaft stellt. Wenn daraus die Einsicht resultiert, daß ihm nicht zu helfen ist, befindet er sich auf dem richtigen Weg.
II
Wahrnehmung als Ereignis - das ist es, was im Bewußtsein des Autors vorausgegangen sein muß, damit das Gedicht entstehen kann. Und es bezeichnet zugleich, was das Gedicht dem Leser im Spracherlebnis zu bieten hat. Wahrnehmung als Ereignis. Unsere Lieblingsgedichte sind wahrscheinlich jene, bei denen wir am deutlichsten fühlen, daß sie uns sehend machen.
III
Wenn ein Gedicht schwer verständlich ist, kann das vier Ursachen haben. Erstens: die Verstandesschwäche des Autors. Es wird ihm nicht klar, worauf das Gedicht hinauswill und -soll. Zweitens: die poetische Qualität des Gedichts ist dürftig, und der Autor versucht das in künstlich erzeugter Dunkelheit zu verbergen. Drittens: das Gedicht zielt auf eine innere Wirklichkeit, der sich der Autor nur in gleichnishafter Entsprechung, durch ein in sich schlüssiges Modell aus Sprache nähern kann. Viertens: das Gedicht spricht von einer Erfahrung, die der Leser nicht gemacht hat oder an die er sich nicht zu erinnern wünscht. Ohne die Bereitschaft, sich radikalisieren zu lassen - vor allem gegen sich selbst - wird man kein Leser.
IV
Das Gedicht ist ein Einzelgänger. Man begegnet ihm nur, wenn man selber einsame Wege geht.


.